Unterscheidet sich die Zufriedenheit mit der Unterbringung zwischen Kindern und Jugendlichen, die ein nachvollziehbares Narrativ zum Platzierungsgrund haben, von denjenigen, bei welchen dies nicht der Fall ist?
Einleitung
Manche Kinder und Jugendliche können nachvollziehbar benennen, wieso sie fremdplatziert sind, während andere keine, unschlüssige oder schuldbeladene Erklärungen haben. Dabei wäre die Entwicklung eines für sich schlüssigen Narrativs (eine Geschichte über etwas erzählen können) für das psychische Wohlbefinden überaus wichtig. Dadurch steigt das Koherenzerleben und auch schwierige Erfahrungen lassen sich besser in die eigene Lebensgeschichte integrieren, verarbeiten und überwinden. Ohne eine benennbare Geschichte hingegen fühlt man sicher eher dem Schicksal ausgeliefert.
Im EQUALS-Tool gibt es ein Ressourcen-Profil für die Kinder und Jugendlichen, welches die offene Frage «Ich bin hier, weil ...» enthält. Damit ergibt sich die Möglichkeit, zu analysieren, ob die Qualität dieser Aussagen einen Einfluss auf andere der erfassten Variablen zur Situation der Kinder und Jugendlichen und des Verlaufs ihrer Unterbringung hat. Die Kinder und Jugendlichen können z. B. in einem anderen Fragebogen regelmässig ihre Zufriedenheit zu einer Reihe von Aspekten der Unterbringung (Eintritt, Netzwerk, Partizipation, Gespräche, Mitarbeiter, Bezugsperson, Wohnen und Leben, Regeln und Schule und Ausbildung) äussern. Für diesen Beitrag wurde der Zusammenhang zwischen den Narrativen zum Platzierungsgrund und Ergebnissen aus diesen Zufriedenheitsbefragungen untersucht.
Methode
Die Auswertung basiert auf den Daten von 333 Kindern und Jugendlichen im Alter von 7 bis 23 Jahren aus insgesamt 29 Institutionen, die zwischen 2015 und 2020 die Frage aus dem Ressourcenprofil beantwortet und die Zufriedenheitsbefragung bearbeitet haben. Mit Mittelwertvergleichen wurde geprüft, ob sich die Zufriedenheit zwischen verschiedenen Narrativen zum Platzierungsgrund unterscheidet. Dafür wurde aus den Antworten aus der Frage «Ich bin hier, weil ...» drei Gruppen gebildet, die sich weder in der Alters- noch in der Geschlechterverteilung unterschieden haben:
(1) Bei schlüssigen Narrativen wurde eine nachvollziehbare Erklärung zum Platzierungsgrund erkennbar, welche keine eigene Abwertung enthielt, z. B. weil «ich Hilfe bei den Hausi brauch und kein richtiges Zimmer hatte», «ich auf meinen Konsum von Cannabis achten möchte und eine Anschlusslösung (Lehrstelle) finden möchte», «zum Schutz und wegen schulischen Absenzen» oder «meine Mutter und mein Vater nehmen Drogen und können daher nicht zu mir schauen».
(2) Bei schuldbeladenen Narrativen werteten sich die Kinder und Jugendlichen oft ab und gaben sich allein die Schuld für die Fremdplatzierung, z. B. weil «ich Mist gebaut habe», «ich was falsch gemacht habe» oder «ich dumm bin und ein gestörtes Kind».
(3) Bei unschlüssigen Narrativen wurden entweder keine, desorganisiert wirkende oder nur schwer nachvollziehbare Erklärungen gegeben, z. B. weil «keine Ahnung», «ich schlau bin», «egal», oder «ich einfach King-mässig bin».
Ergebnisse
In der verfügbaren Stichprobe wiesen 30.7 % schlüssige und 26.8 % unschlüssig/desorganisierte Narrative auf. Den grössten Anteil gab es mit 42.5 % bei den schuldbeladenen Narrativen.
In allen Zufriedenheitsbereichen –Eintritt, Netzwerk, Partizipation, Gespräche, Mitarbeiter, Bezugsperson, Wohnen und Leben, Regeln und Schule und Ausbildung – berichteten Kinder und Jugendliche mit schlüssigen Narrativen zum Platzierungsgrund von einer signifikant höheren Zufriedenheit als die aus den beiden anderen Gruppen. Dies zeigte sich vor allem in der Zufriedenheit mit dem Eintritt, der Partizipation, den Regeln, der Schule und Ausbildung. Die Gruppe mit unschlüssigen/desorganisierten Narrativen war im Schnitt am wenigsten zufrieden. Neben dem Eintritt und den Regeln, wurde dies vor allem bei der Partizipation und den geführten Gesprächen deutlich.
Schlussbemerkungen
Die Frage «Ich bin hier, weil ...» im Ressourcen-Profil von EQUALS wird offen gestellt und die Zuteilung in die Narrativ-Gruppen für diesen Beitrag wurde durch die Einschätzung von aussen gemacht. Damit wissen wir nicht eindeutig, welches Narrativ zum Platzierungsgrund die Kinder und Jugendlichen tatsächlich für sich haben und ob die Zuteilung in die Gruppen in jedem Fall gelungen ist. Auch wissen wir nicht hundertprozentig, in welche Richtung der Zusammenhang geht – sind diejenigen mit schlüssigen Narrativen zufriedener oder sind die Zufriedeneren bereiter, die Frage zum Platzierungsgrund ‹seriös› auszufüllen?
Dennoch ist es beeindruckend, dass die von aussen wahrgenommene Qualität der Informationen aus der Frage nach dem Platzierungsgrund deutliche Unterschiede in den Zufriedenheitsbefragungen zum Vorschein brachte. Das Ergebnis bestärkt uns somit in der Annahme, dass die Erarbeitung eines schlüssigen Narrativs zur Platzierung als eine sehr zentrale Voraussetzung für das Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen in der Unterbringung und deren Erfolgschancen ist. Es kann sehr wesentlich sein, sich bereits vor oder spätestens zu Beginn der Platzierung die Zeit zu nehmen, mit den Kindern und Jugendlichen sowie ihren Familien zu erarbeiten, worin der «gute Grund» für die Unterbringung gesehen werden kann. Gerade für Kinder und Jugendliche, die sich allein die Schuld für ihre Situation geben oder noch gar keine Erklärung finden konnten, kann dies helfen, um den Übergang in die Unterbringung weniger als Bruch zu erleben, allfällige Loyalitätskonflikte zu verringern und sich auf die aktuelle Hilfe besser einlassen zu können.
Unsere Ergebnisse finden Sie unter www.equals.ch/factsheets in Form einer visualisierten Zusammenfassung.